Ach ja, das Bildungsbürgertum und ihre Klassiker. Ja, ich mag Bücher, hab früher viel mehr gelesen als jetzt, aber die großen Klassiker sind mir nach der Schulzeit nie mehr begegnet. Dort ja, hat auch Spaß gemacht, aber da war ich die Ausnahme. Ob mir Goethe oder Schiller im Leben irgendwas gebracht hat? Die eine oder andere Frage in einer Quizsendung kann man beantworten, in intellektuell angehauchten Gesprächen mithalten - aber Leben? Nein.
Wenn Jugendliche heutezutage die Welle lesen oder sehen, lernen sie in kürzerer Zeit mehr als wenn man ihnen Nathan der Weise beibringen will. Zumindest all denen, die nicht mindestens mittlere Reife anstreben. Und das läßt sich beliebig ergänzen.
Warum sie mit Literatur, die nicht ihrere Sprache und ihrer Lebenswelt entspringt vergraulen als ihnen Dinge bieten, die sie anspricht? Warum sollen die Gedanken eines Goethe soviel wertvoller sein als von Literaten der Neuzeit? Warum sollen die nur abgeschrieben haben oder das gleiche geschrieben haben? Vielleicht ist es so, weil sie die Texte kannten, vielleicht kamen sie einfach zu den gleichen Geschichten, weil das Leben in den Grundzügen noch genauso ist? Ging es nicht immer um Liebe, Eifersucht, Wut, Verzweiflung, Mord und Vergebung? Vielleicht liest der eine oder andere irgendwann etwas, was ihn fasziniert, vielleicht auch nur die Tageszeitung oder irgendwelche Bellestristik oder gar nur ein Fachbuch seines Ausbildungsberufes. Ich wünsch mir Kinder und Jugendliche, die in der Schule etwas fürs Leben lernen. Eine Steuererklärung machen, Versicherungsunterlagen lesen, die eigenen Rechte und Pflichten einfordern und erfüllen, Geschäftsbriefe schreiben, Kontoauszüge lesen, ein paar wirtschaftliche und politische Zusammenhänge verstehen.
Selbstverteidigung und Verhütung sind in genügend Gegenden deutlich wichtigere Grundvoraussetzungen als das Wissen darüber, was vor 250 Jahren jemand aufgeschrieben hat. Bitte bedenkt, daß nicht alle Jugendlichen, die eine Schule verlassen, einen Bildungsstand haben, der ein Wissen über Goethe und Kollegen notwendig sein läßt oder über den Intellekt verfügen die Klassiker aufs heutige Leben zu transferieren. Und daß es auch für genügend Akademiker (siehe auch hier) es nicht notwendig ist um sowohl beruflich als auch privat glücklich und erfolgreich zu sein. Ich frag mich immer wieder warum es wichtiger ist Dinge zu lesen, die vor 200 Jahre geschrieben wurde und sie ins heutige Leben zu übertragen, statt das zu lesen, was heute passiert.
Ein Abgrenzen der Intellektuellen, die sich mit "guten" Büchern beschäftigen von denen, die "nur" leichte Kost lesen zu denen die "Unterschichtenfernsehen" verfolgen tut doch nicht Not, oder? Vielleicht haben wir hier welche, die auf der Linie "nur Klassiker und gelegentlich Nachrichten und Arte" leben, aber werden deswegen alle anderen zur dummen Unterschicht, die nur auf der falschen Schule waren deswegen das wichtigste im Leben verpaßt haben? Vielleicht mag jemand beides, vielleicht braucht jemand nach einem anstrengenden Job besonders leichte Kost zu Hause oder im Urlaub?
Ach ja: Faust hab ich in der Schule nicht gelesen, sondern gesehen. Es war ok. Schiller hat mir besser gefallen. Lessing, Kleist, Büchner, Dürrenmatt - gut mal davon gehört zu haben, weil es mir für mein Allgemeinwissen wichtig erscheint - für mein alltägliches Leben spielten sie keine Rolle - oder mir ist es zumindest nicht bewußt.
Die Welle habe icj gelesen - aber nicht, weil es Schullektüre war, sondern, weil es mich interessiert hat. Genauso wie die Wolke oder die Kinder von Schewenborn. Anne Frank war Schullektüre - das Buch fand ich nur furchtbar und würde es nicht nochmal in die Hand nehmen.
An Christiane F. kam ich vorbei - unfreiwillig - keiner unserer Lehrer wollten sich den Film mit uns anschauen, das Buch hat mich nicht interessiert. Mittlerweile verfolge ich die Geschichte von Christiane F. sporadisch und bin mir sicher, daß ich mit ihrem Buch nichts verpaßt habe.
Vielleicht rührt diese fehlende klassische Bildung aus dem Umstand, daß ich keinem akademischen Elternhaus entspringe und auch auf keinem Gymnasium war. Ich mußte auch nicht zum Balettunterricht, Geige oder Tennis spielen lernen
Ach ja: ich schau grad SAT 1 - und mir gehts gut dabei.
Anja